Die Überraschung

Würdest du im Dunkeln alleine durch den Schnee stapfen?

Sie öffnete die Tür. Die Leuchtreklame von gegenüber spiegelte sich im Nass. Der Nebel hatte sich über ihr kleines Örtchen gelegt, wie eine Krake, die ihre Beute fest im Griff hatte. Der Barmann rief ihr zu, sie solle bei diesem Wetter vorsichtig sein.
Eva nickte und ließ die Tür hinter sich zufallen. Schlagartig drangen die Musik und die Gesprächsfetzen nur noch gedämpft an ihre Ohren.
Erleichtert atmete sie aus. Diese Weihnachtsfeiern ermüdeten sie. Eva marschierte durch das verschneite Feld den Straßenrand entlang. Ihr Auto parkte ein kleines Stück entfernt. Alleine im Dunklen wurde ihr mulmig zumute. Der Schnee knirschte unter ihren Schuhen. Der Wind zog an ihrer Kapuze. Ein feuchter, rauchiger Geruch kratzte an ihrer Nase.
„Bald bist du am Auto“, sprach sie sich Mut zu.
Hastig setzte sie einen Schritt vor den anderen. Rutschte ein paar Mal leicht zur Seite, schaffte es aber jedes Mal, ihre Balance wiederzufinden.
Sie hörte das dumpfe Klopfen erst, als es immer näher kam. Überrascht hielt sie an. Ihr Puls beschleunigte nach oben. Unruhig durchforsteten ihre Augen die Umgebung.
Erleichtert atmete sie aus, als sie ein kleines Stück entfernt einen Hasen sah, der mit dem Hinterfuß auf die Erde klopfte. Eva setzte ihren Weg fort. Nur noch zwei Laternen, dann würde sie ohne richtige Lichtquelle weitergehen. Warum hatte sie am Nachmittag auch nicht daran gedacht, dass es später dunkel sein würde. „Na, jetzt kannst du´s auch nicht mehr ändern.“
Die vorletzte Laterne.
Die Letzte.
Plötzlich hielt sie wieder an. Entsetzt starrte sie zu Boden. Ihre Pupillen weiteten sich. Ihr Herz setzte aus. Vor Eva zog sich ein dicker Streifen Blut durch den Schnee. An manchen Stellen dunkler, an anderen etwas heller. Es sah dramatisch aus.
Reflexartig fasste sie sich an den Bauch. War jemand verletzt? Vielleicht war jemand ausgerutscht und brauchte ihre Hilfe?
Mutig, aber langsam, verfolgte sie zuerst mit ihren Augen die rote Spur. Aufgeregt schnappte sie nach Luft als sie etwas im Schnee erkennen konnte. Als sie genauer hinsah, konnte sie den Körper eines Rehs wahrnehmen. Sie stapfte näher heran, um sich zu versichern, dass es tot war, als eine Bewegung sie zur Seite sehen ließ. Zuerst wollte Eva sich gleich wieder abwenden, aber etwas Glänzendes hielt sie davon ab. Ein Mann im Weihnachtskostüm stand ruhig im Schnee und fixierte sie mit seinen Augen. Irgendetwas an seiner Anwesenheit beunruhigte sie.
Die Zeit schien stillzustehen. Die Schneeflocken in Zeitlupe neben ihr zu Boden zu fallen. Der Weihnachtsmann starrte sie noch immer an. Eva zog den Mantel fester an ihren Körper und wollte wieder umdrehen, um zurückzugehen, als der Weihnachtsmann los sprintete.
Eva überlegte nicht lange und rannte ebenfalls. In ihrer Panik in das verschneite Feld neben ihr. Das unberührte Weiß breitete sich vor ihr aus, wie eine Wüste. Der Nebel verschlang sie und raubte ihr zugleich jede weitere Orientierung. Immer wieder versanken ihre Füße tief im Schnee, zwangen sie innezuhalten, aber das Stapfen hinter ihr trieb sie an.
Irgendwann traten verschwommene Lichter in ihr Blickfeld. Je weiter sie rannte, umso eher konnte sie erkennen, woher sie kamen. Ein kleines Häuschen wartete nicht weit entfernt. Die ersten Töne eines Weihnachtsliedes drangen an ihre Ohren.
War das Jingle Bells?
Eva rannte weiter. Das Haus schien immer näherzukommen und das Stapfen leiser zu werden. Als sie am Haus ankam, zögerte sie keine Sekunde, sie drückte die Schnalle nach unten und stürmte in die Stube. Ein Radio, aus dem die Musik drang, stand am Esstisch. Lichterketten flackerten in ein paar Ecken des Hauses.
„Hallo“, rief sie, um auf sich aufmerksam zu machen. Niemand antwortete. „Hallo!“, probierte Eva es noch einmal. Hektisch sah sie sich im Haus um.
„Hallo“, sagte plötzlich eine ihr bekannte Stimme. Entsetzt wandte sie sich um. Er stand vor ihr, verriegelte die Tür hinter sich, zog sich gemächlich den Bart ab und lächelte.
„Thomas?“
„Mich hast du wohl nicht erwartet.“
Ihr Ex-Freund legte das Messer ab und öffnete die oberen Knöpfe seines Kostüms.
„Willkommen Zuhause, mein Engel.“
Erstarrt, beobachtete sie seine Bewegungen und wich ein Stück zurück.
„Warum so schüchtern? Wir kennen uns doch.“
Er hatte ihr in letzter Zeit viele merkwürdige Nachrichten hinterlassen, aber sie hatte gedacht, dass wären nur betrunkene Ausrutscher gewesen.
„Oder würdest du lieber Zeit mit diesem Lackaffen verbringen?“
„Wem?“ Endlich schaffte sie es, in das Gespräch einzusteigen.
„Dem rot-blonden Typen, der in deinem Büro sitzt.“
„Mein Arbeitskollege?“
„Dein Arbeitskollege“, äffte er sie nach, „na, klar.“
„Was ist denn mit dir los? Wir sind getrennt.“
„Auf deinen Wunsch hin.“
„Es spielt doch keine Rolle wer sie beendet hat, sie ist vorbei.“
Wütend hämmerte er gegen die Wand. Eva verstummte. Wie konnte sie dieser Hölle wieder entfliehen?
„Er hat mir doch erzählt, wie du ihn angesehen hast.“
„Mein Kollege? Woher willst du ihn kennen?“
Völlig daneben schüttelte er den Kopf. Sie musste hier raus. Sofort.
„Lass mich gehen!“
Er lachte. „Ganz sicher nicht.“
Er kam auf sie zu, wollte sie am Arm packen, aber Eva zögerte nicht und trat ihm in den Schoß. Thomas riss die Augen auf, fluchte und zerrte sie am Arm zu Boden. Doch Eva schlug mit ihren Händen weiter, bis er schließlich loslassen musste. Hastig tastete sie das Schloss an der Tür ab. Drehte den Schlüssel. Als sie die Tür öffnen wollte, packte er sie am Kragen ihrer Jacke. Sie wich zurück und riss die Tür dabei auf. Mit einem Ratsch öffnete sie ihren Mantel, entzog sich daraus und rannte um ihr Leben. Wieder durch die nasse Wüste und die sperrige Sicht. Hinter ihr fluchte Thomas.
In diese Richtung musste doch die Straße liegen.
Evas Schuhe waren klitschnass. Es fiel ihr immer schwerer, weiterzulaufen. Die eisige Kälte kratzte über ihren spärlich bedeckten Körper. Als sie gegen etwas stieß, sackte sie verwundert zusammen.
„Eva?“
Verwundert blickte sie nach oben. Die rot-blonden Haare stachen ihr ins Auge. „Mein Ex verfolgt mich. Er hat ein Messer in der Hand. Du musst mir helfen.“
Verwirrt sah ihr Kollege sie an. „Bleib ganz ruhig.“
„Wir müssen los.“ Sie krallte sich an den Ärmel seiner Jacke und versuchte, ihn weiterzuziehen.
„Ich rufe die Polizei“, sagte er. Er starrte in den Nebel und tippt auf die Tastatur in seinem Handy.
Als er das Handy ans Ohr hielt, fragte sich Eva, was er überhaupt hier draußen im Nebel machte und warum die Notrufnummer, die er eingetippt hatte, so lange gewesen war. Alles fügte sich in ihrem Kopf zusammen, als ihr Kollege sich umdrehte … sein neues Auto … die teuren Schuhe …
Er hatte sich kaufen lassen. Eva pfefferte die Schuhe von ihren Füßen und lief barfuß durch den Schnee. Die Kälte stach wie tausend spitze Nadeln in ihre Sohlen.
Das hektische Atmen hinter ihr wurde immer lauter, aber der Nebel gleichzeitig immer dünner, bis nur noch hauchdünne Streifen in der Luft lagen. Eva sah die Einfahrt in die Stadt. Das Pub war nicht mehr weit entfernt.
Ihre Füße klatschten auf die Straße. Schottersteine bohrten sich in ihre Fußsohlen. Das Streusalz brannte wie Feuer.
„Eva, mach keinen Scheiß“, brüllte Thomas hinter ihr.
„Fick dich!“
„Du …“
Seine Schritte wurden lauter. Eva liefen Tränen über die Wangen. Der Schmerz. Die Angst. Die Schritte.
Bum. Bum. Bum.
Seine schweren Stiefel hallten über den Boden. Gefühlt war er bereits an ihr dran.
„Nein“, flehte sie, als sie noch andere Schritte am Asphalt vernahm.
Das Licht der Reklame spiegelte sich noch immer im Nass am Boden. Die Geräusche des Pubs drangen wieder an ihre Ohren. Eva konnte nicht anders. Sie musste sich kurz umdrehen.
„Jetzt, hab ich dich.“
„Nein!“
Thomas war nur noch eine Armlänge entfernt, als er über seine Füße stolperte und zu Boden fiel. Eva atmete auf, rannte, riss die Tür des Pubs auf und fiel erschöpft mitten im Eingangsbereich zu Boden. Die Gäste betrachteten sie. Sahen das Blut an ihren Füßen, die mit Nässe getränkten Kleider.
„Eva!“, sagte der Barmann. Sie deutete nach draußen. Er schnappte seinen Baseball-Schläger, während seine Frau die Polizei rief. Die Tür schlug hinter ihm zu. Die Kälte wurde ausgesperrt und eine Decke um ihre Schultern gelegt.

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